Sep 162010
 

Mit Recht wird innerhalb unserer Kultur viel Wert darauf gelegt, was man mutiges, kühnes Vertreten der »persönlichen Überzeugung« nennt. Wer für seine eigenen Gedanken und Ansichten eintritt, gilt als charaktervoll; wer dies nicht tut, als charakterlos.
Man kann einen Menschen nicht schätzen, der sich zum Sprachrohr eines anderen macht. Es wäre natürlich ein Unding, gegen solche Grundsätze etwas einzuwenden. Die großen Anforderungen, die unsere Zeit an die Persönlichkeit stellt, machen ein sicheres, festes Auftreten derselben zur unbedingten Notwendigkeit. Aber eine wahrhaft geistige Lebensauffassung muss solche Dinge von einem höheren Gesichtspunkte aus ansehen. Sie muss gerade gegenüber den höchsten Tugenden Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis fordern. Sie muss sich darüber klar sein, dass wie der Nordpol nicht ohne den Südpol, so die höchsten Vorzüge nicht ohne die entsprechenden Schattenseiten sein können. Und die Schattenseite der »persönlichen Überzeugung« ist der Eigensinn, ist das Pochen auf die »eigenen Gedanken«. So schön es ist, seine Meinung rückhaltlos zu vertreten, so notwendig ist es von einem anderen Gesichtspunkte, die Meinung des Mitmenschen als völlig gleichberechtigt gelten zu lassen. Und wie wenig liegt das gerade im Charakter der Überzeugungstreuesten. Gerade sie zeigen oft eine Intoleranz des Fühlens und Denkens, die es ihnen unmöglich macht, auch nur auf andere Meinungen wahrhaft einzugehen. Gewiss: Sie werden Toleranz fast immer im Munde führen. Aber üben können sie sie kaum. Denn es kommt nicht darauf an, dass man einen Grundsatz anerkennt, sondern darauf, dass man ihn lebt. Man muss durch Übung sich in ihm einleiben. Innere Toleranz, Gedankentoleranz sollte man in strenger Selbstzucht sich einverleiben. Und wenn man es im kleinsten tut, so wird es zuletzt ein Grundzug unseres ganzen gegenwärtigen Lebens werden.
Auf zwei Dinge sei hier hingewiesen. Auf etwas ganz Alltägliches zuerst. Man belausche ein Gespräch. Wie oft wird man, vorschnell ausgesprochen, das Wörtchen »aber« hören. Man hat noch gar nicht auf sich wirken lassen, was der andere gesagt hat, man hat vielleicht sich gar nicht vollkommen zum Bewusstsein gebracht, was ihn leitet, und schon ist man bereit, die eigene Meinung mit dem »aber« entgegenzusetzen. Bewusst unterdrücken sollte man solche Angewöhnungen. Man sollte sich üben im stillen, ehrfürchtigen »Zuhören«. Ob man es zunächst glaubt oder nicht: Nur der kommt zu höherer geistiger Entwickelung, der solches »Zuhören« geübt, viel geübt hat. Und ein Zweites: In einer Versammlung macht jemand einen Vorschlag. Sogleich sind andere da mit Gegenvorschlägen. Sie glauben durchaus: Sie müssen ihre eigene Meinung zum Ausdrucke bringen.
Man sollte sich vielmehr zum Grundsatz machen: Niemals einen fremden Vorschlag etwas entgegensetzen, wenn man nicht vorher vollkommene Einsicht in die Motive des anderen Vorschlages gesucht hat. Man sollte sich immer vor Augen halten, dass man doch egoistisch ist, wenn man eine Meinung deshalb liebt, weil man sie selbst hat. »Ich kann doch nur vertreten, was ich selbst glaube«, das kann man allerwärts hören. Und doch ist es nicht minder richtig, dass man sich selbstlos in die Meinung des anderen versetzen soll, dass man – bevor man sich ins Feld führt, zuerst prüfen soll, ob man denn wirklich Besseres zu vertreten hat, als der andere. Diejenigen, welche eine höhere geistige Entwickelung erlangt haben, sie haben sie durch ein Opfer in dieser Richtung erkauft. Sie haben sich auferlegt, ganz in den Meinungen ihrer Mitmenschen aufzugehen, bis in die innersten Fasern ihrer Seele sich selbst auszulöschen, um in den anderen unterzugehen. Ein wahrer Mystiker kann nur werden, wer gelernt hat, bis in die geheimsten Gedanken hinein selbstlos zu werden. Man muss Erfahrung in solchen Dingen haben, wenn man etwas behaupten will. Durch weniges entwickelt man sich auf den ersten Stufen der geistigen Leiter mehr, als dadurch, dass man sich eine Zeitlang Schweigen in seinem tiefsten Innern auferlegt. Viel gewinne ich dadurch, dass ich Monate, vielleicht Jahre hindurch mir einmal gesagt sein lasse: Jetzt will ich, ganz bescheiden, gar nichts selbst meinen, sondern selbstlos einmal fremde Meinungen in meinem Innern leben lassen. Ich will ganz untertauchen in fremden Empfindungen, Gefühlen, Gedanken. Dadurch erweitere ich selbstlos mein Selbst, während ich es selbstsüchtig verengere, wenn ich fort und fort nur meine eigenen Meinungen aus dem Wesen meiner Selbst als Wellen an die Oberfläche meines Lebens spielen lasse. – Solches sollte als »Kontrollgedanke« besonders bei denen Platz greifen, welche – mit Recht – im Sinne unserer Zeit, immer das Wort im Munde führen: »persönliche Überzeugung«. 

Autor:Rudolf Steiner GA 34